taz von Ulrich Gutmair, 20.5.2015
Die Welt von Eckhard Fuhr, 19.5.2015
Berliner Abendblatt von Nils Michaelis, 19.5.2015
epd Film von Barbara Schweizerhof, 13.5.2015
Filmdienst von Ulrich Kriest, 11/2015
newfilmkritik.de von Andreas Mücke-Niesytka, 9.4.2015
programmkino.de von Michael Meyns, Mai 2015
Kritik von Barbara Schweizerhof in epd Film, 13.5.2015
Westberlin war die längste Zeit der Ort, an dem man sich vor Augen führen konnte, dass es den Krieg und die Herrschaft des Faschismus tatsächlich gegeben hat – und dass all das gar nicht so lange her ist. Einschusslöcher in mancher Fassade, eine Vielzahl an ungepflegten Brachen und an manchen Stellen sogar noch richtige Ruinen boten Zeugnis. Der unheimlichste oder auch verwunschenste dieser Orte aber war zweifellos der Platz östlich des Martin-Gropius-Baus, der direkt an die Mauer grenzte. Nur waghalsige Fahrradfahrer, die auf dem Weg von Kreuzberg in den Tiergarten einen Schleichweg suchten, kamen hier vorbei. Von den überwachsenen Schuttbergen und dem teils eingezäunten Dickicht ging die Ahnung aus, dass hier etwas gestanden hatte, was man offenbar nicht mehr hatte haben wollen und woran auch nicht erinnert werden sollte. In schneereichen Wintern nutzten manchmal ein paar Kinder die Hügel als Rodelhänge. Besonnene Mitbürger versuchten, sie davon abzuhalten.
Der unheimlich-verwunschene Ort trägt die Adresse Niederkirchnerstraße 8; früher hieß die Straße Prinz-Albrecht-Straße und in die Nummer acht war 1933 die Gestapo eingezogen, später auch der Reichssicherheitsdienst. Hier wurden Terror und Völkermord geplant und verwaltet, hierher wurden Gefangene gebracht und gefoltert. Die Prinz-Albrecht-Straße lag damals mitten in der Stadt, heißt es irgendwann in Martin Gressmanns Dokumentation über diesen Ort, die Nazis wollten ihre Geheimpolizei und deren Taten gar nicht verbergen, im Gegenteil, dass jeder wusste, was hier geschah, diente als Instrument der Kontrolle.
Der in der Hauptsache als Kameramann arbeitende, 1953 in Hamburg geborene und 1981 nach Berlin gezogene Martin Gressmann hat dieses „Gelände“ und seine unmittelbare Umgebung seit 1986 immer wieder gefilmt. Die Aufnahmen hat er nun zu einer Dokumentation zusammengeschnitten, die einem faszinierenden Essay gleichkommt. DAS GELÄNDE ist viel mehr als eine Langzeitbeobachtung, die nachvollzieht, wie aus diesem Schreckensort nach Jahren der Vernachlässigung zuerst in den 80ern ein Ort des Gedenkens und schließlich, in den 2000er Jahren, unter dem Namen „Topographie des Terrors“ ein richtiges Museum wird. Wer solche Fakten wissen will, muss die Wikipedia bemühen. Denn die Vielzahl an Sprechern, die Gressmann über seine Aufnahmen aus den Jahren 1986–2010 gelegt hat, äußern sich nur bruchstückhaft und auf höchst diverse Weise über das, was auf und mit dem „Gelände“ passiert ist. Im Mosaik des von Zeitzeugen, Historikern, Architekten, Politikern und Betroffenen Gesagten aber setzt sich ein ungeheuer vielschichtiges Nachdenken zusammen. Darüber, wie man den Tätern und gleichzeitig dem hier erlittenen Leid angemessen gedenkt, darüber, wie Städte sich neu erfinden und verändern. „Das Provisorium ist fast vorbei“, besagt ein Untertitel gen Schluss. Und plötzlich hofft man auf das „fast“, denn nichts ist geschichtsträchtiger als ein Provisorium.
Kritik von Andreas Mücke-Niesytka auf newfilmkritik.de, 9.4.2015
In den frühen Achtzigern konnte man neben dem Martin Gropius Bau, der damals gerade als Ausstellungsort neu entdeckt worden war, auf einem für Westberlin so typischen Brachgelände, das angrenzend zur Mauer verwildert wie zugewachsen war, bei Strappsharry gegen einen geringen Obolus in einem alten Opel Ascona ohne Nummernschild das Autofahren üben und sich dabei irgendwo hinträumen, denn die zum Fahren grob befestigten Kehren auf diesem Gelände befanden sich inmitten eines wuchernden Grüns, eingebettet zwischen Anhalter-, Wilhelm- und heutiger Niederkirchnerstrasse; ein Niemandsland, dessen Zukunft auch gedanklich noch nicht erschlossen war und dessen Vergangenheit in einer Art Dornröschenschlaf vor sich hinschlummerte, wo es aber nichts Verwunschenes, sondern nur Vergessenes gab.
Das Wiederentdecken und zum Sprechen bringen von verschütteter, zugewachsener Geschichte war damals mit Verve Credo der Zeitschrift Ästhetik & Kommunikation, die Beiträge “zur politischen Erziehung” formulierte, und einer der Herausgeber D. Hoffmann-Axthelm, der als Stadthistoriker/-planer wie Architektur-Kritiker reüssierte, dachte als einer der ersten öffentlich nach, dass es jetzt an der Zeit sei, diesen Ort als einen der Erinnerung zu kennzeichnen, an dem nicht nur das, was bis heute einzig ist, mitausgedacht sondern auch ausgeführt worden ist.
Die Ausstellung „Topografie des Terrors“ ist das Ergebnis eines langwierigen öffentlichen Diskurses darüber.
Martin Gressmanns Film erscheint jetzt wie eine Konnotation dazu, denn fast zeitgleich, nämlich 1985, begann er mit seiner Passion immer wieder hier her zu kommen, mit einer 35 mm Kamera, um das aufzunehmen, was man hier sehen konnte.
Das Ergebnis des Bildersammelns ist ein offenes filmisches Nachdenken. Was er zeigt, ist die Geschichte des Geländes als die der Sichtbarmachung von Geschichte, und wie das zusammenhängt, das sukzessive Freilegen von verschütteten Gebäuderesten und der Diskurs über das richtige Erinnern und seine Institutionalisierung.
Und da er in diesem Zeitraum von fast 30 Jahren alles dort aufgenommen hat, was in irgendeinem Kontext mit dem als von ihm als „Gestapogelände“ bezeichneten Ort zu sehen gab, gibt es natürlich auch Abschweifungen, in denen das Abseitige, das scheinbar Nebensächliche zum Ereignis wird, und es erschließen sich interessante Verknüpfungen.
All das entlang der Zeitleiste, chronologisch, und wie das verschränkt ist, erinnert nicht nur konzeptionell an Alexander Kluges Arbeitsweise der Montage, aus „unterschiedlichen Blickwinkeln, wo zunächst disparat erscheinende Bilder zusammengesetzt werden“
und „seine Verfahrensweise darin besteht, dass er in einem ersten Produktionsschritt umfangreiches Material ansammelt, danach in einer zweiten Phase aus diesem Fundus auswählt und dann die Reihenfolge der einzelnen Komponenten bestimmt.“
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Das in statischen Bildern oder mit erzählenden Schwenks, wo man zu Beginn einer Einstellung das Ende noch nicht weiß und das dann auf einzige Weise mit dem Anfang verbunden wird – wie man es zuletzt oft in den Filmen von Ehmann/Farocki in „Eine Einstellung zur Arbeit“ sehen konnte – korreliert mit dem schichtweisen Freilegen des Geländes, und der Blick der Kamera wird im Verlauf des Erkundens, des Markierens und Ausgrabens vom neugierig distanzierten auf unmerkliche Weise zum teilnehmend beobachtenden und durch die zunehmende Nähe zum Sujet über all die Jahre auch ein eingreifender. Eine sich häufende Ereignishaftigkeit an diesem Ort generiert kontrastierende Bilder, die Martin Gressmann dankbar einfängt und mit Hilfe von Bettina Böhler klug montiert hat.
Und was wie ein Kunstgriff daherkommt oder aus der Not geboren, das Asynchrone von Bild und Ton, erscheint als großartig dem Sujet angemessen. Das gegenläufige, zum Teil höchst subjektive Erzählen aus dem Off, wo Martin Gressmann aus seiner Ratlosigkeit, warum es ihn hier immer wieder her zieht, keinen Hehl macht und er dann einen fiktiven Dialog mit seiner Großmutter selber einspricht, das funktioniert hier wie sonst nur bei Dominik Grafs unverwechselbar dahingerauntem Nachdenken und Überlegen – (mit dem er zuletzt bei „Deutschland 09“ zusammengearbeitet hat).
Und die weiteren, den Ort erklärenden Stimmen, die konsequent unsichtbar auf der Tonebene bleiben, sind das Konzentrat, Exzerpte aus langen Gesprächen mit Zeitzeugen, Historikern und anderen am Entstehen der Ausstellung Beteiligten und Martin Gressmann. Es erscheint wie ein unaufgeregtes fortwährendes Parlando, das die Hintergrundinformationen zu dem Gelände abgibt.
Der Film beginnt im milden Sommerlicht. Das körnige Material verleiht ihm etwas Impressionistisches. Ein Durchblick zur Mauer, zum Gropiusbau, Brachland, die anliegenden Straßen, zugemauerte Eckruinen, in der Zeit vor und während der Kreuzberger Sanierung, Bauschutthügel im Gegenlicht, Durchblicke Richtung Potsdamer Platz, vor allem aber überhaupt nichts von innerstädtischem Getriebe zeigen diese ersten Bilder des Films. Der Koloss des ehemaligen Reichsluftfahrtministeriums hinter dem Grenzstreifen.
Die Straßen davor als ereignislose Westberliner Maueröde, die man damals als Westberliner passieren musste, um vom Wedding nach Kreuzberg zu gelangen. Nichts weist auf irgendetwas. Dann erste Grabungen und Freilegungen von Grundmauern des ehemaligen Prinz Albrecht- Palais, Kachelstrukturen, direkt vor dem Mauerstreifen.
Eine Annäherung, zuerst von der Mitte nach außen geguckt, die Straßen als Begrenzungen, von dort der Blick wieder zurück auf das Zugewachsene sich Selbstüberlassene im Innern. Spurensuche und Beschreibung derselben wirken hier in einem, das Zeigen des Offenlegens von Grundmauern als eine Untersuchung mit der Kamera. Blickachsen erschließen das Gelände zunehmend räumlich, das in seiner ehemaligen Abgeschlossenheit soviel an Widersprüchen und Gegensätzlichem in der Zeit nach 45 angesammelt zu haben scheint, was sich im Verlauf der Dreharbeiten noch auf ungeahnte Art steigern wird, so dass man hier auch von einer Topographie des Staunens und Wunderns reden kann.
Das archäologische Arbeiten, das Vermessen von Fundstellen, das Zuordnen von Scherbenresten, das Auffinden von Skelettiertem, das Präparieren der Fundstelle, das Abzeichnen, Übertragen durch einen Wissenschaftler aufs Gitterpapier eines Notizblocks wird unkommentiert als Vorgang gezeigt und wenn man dann sieht, wie die nummerierten Knochen in einen Karton, der hier auch wie ein Sarg ist, in den Kofferraum eines kleinen Gebrauchtwagens mit Berliner Umlandkennzeichen gelegt werden, erfährt man nebenbei, dass die Erinnerungsarbeit eine karg bezahlte war, damals in den Achtzigern.
Dann zeigt er ein Graffiti aus den Siebzigern, das auf verblichene Nachrichten an einer zugemauerten Eckkneipe an der Wilhelmstrasse verweist und spekuliert im Off darüber, was dahinter wohl für eine Geschichte stecken mag, und später ist das Gebäude verschwunden und ein IBA Neubau an der Ecke Kochstraße/Wilhelmstraße dort, und ein Junge rennt und schreit und ein Vater hinterher, und dann lachen beide, ein Pkw wird beladen, eine Straßenszene aus den 80ern; andere Autos kreuzen und das Abreißen und Neubauen, das Verschütten und Überlagern von Geschichte wie eine bildliche Vergewisserung, wie schnell das geht, mit dem Verschwinden und Vergessen, und es hat den gleichen Stellenwert wie Martin Gressmanns lakonische Feststellung, dass hier nebenan im ehemaligen Reichsicherheitshauptamt bis 1945 die Mehrzahl der Mitarbeiter (Werner Best) promoviert waren, und wir können uns denken, dass das Schreien und Wegrennen an dieser Ecke damals ein anderes war.
Strapsharry/Harry Toste, der seinerzeit nebenan bei der Gestapo von dieser verhört worden war, hat mit dem führerscheinlosen Fahren 30 Jahre später auf diesem Gelände auf seine Art geantwortet, und so erzählt der Film auch von den verschiedenen Aneignungen und Inbesitznahmen des Geländes, und wie man das weiterdenken kann. Einmal fährt im Winter ein Taxi durch das zugeschneite Gelände, und es sieht aus, habe es sich hier hin verirrt, denn es rast mehr durch den fußhohen Schnee von links nach rechts, direkt dahinter die Mauer, und man sieht die die Silhouette eines Gesichts und eine Hand wischt das beschlagene Fenster frei, ein Gesicht, ein suchender Blick, und dann ist es, als vermischen sich die Autospuren im Schnee mit den Schlittenspuren der rodelnden Kinder, die von einem schneebedeckten Hügel herab, der aus aufgetürmten Bauschutt erster Kreuzberger Sanierungen besteht, den Ort auf ihre Weise für sich entdeckt haben.
Und dann kommen mit den Baggern die ersten Andenkenverkäufer und 1989 die Dinge in Bewegung. Wo vorher nur wenige Menschen zu sehen waren, wird aus der vergessenen Prinz Albrecht Straße die Käthe Niederkirchner Straße mit neuen und wiedergefunden Anbindungen aus der Randlage ins Zentrum gerückt und auch die Debatte, wie man diesen Ort mit den inzwischen großflächig freigelegten Kellern richtig kennzeichnen soll, endete zwischenzeitlich, wie wir inzwischen wissen, in einem grotesken Missverständnis.
Denn ausgerechnet hier, wo das bis heute Singuläre bürokratisch und bis ins Letzte durchdacht und auch ausgeführt worden ist, wird ein großartiger Peter Zumthor Entwurf eben zur Mahnung daran als technisch nicht machbar bzw. finanzierbar erklärt. Als Martin Gressmann dann mit der Kamera den Abriss eines Baukrans als einzig Sichtbares dieser gescheiterten Idee der Erinnerung unter Getöse in sich zusammenfallend festhält, gelingt ihm damit auch ein grandioses Bild für das, was an Trümmern schon vorher darunterlag. Und im Umschnitt dann wirkt das Einschlagen des überdimensionalen Abbruchhammers auf schon fertiggestellte Betontürme wuchtig wie etwas Archetypisches in die Gegenwart hinein.
* Alexander Kluge – Der Luftangriff auf Halberstadt am 8. April 1945 – Frankfurt am Main: Suhrkamp – S. 114 ff.Text: Andreas Mücke-Niesytka, 9.4.2015 (newfilmkritik.de)